Seit die vierzehnjährige Lena verliebt ist, dreht sich alles in ihrem Leben um Jakob, sie hyperfokussiert. Es grenzt an Besessenheit, wie sie jeden Teilbereich des Tages mit ihrem Schwarm verbindet. Er steht bei ihr im Hyperfokus. Schon beim Frühstück stochert sie verträumt in ihrem Müsli herum, malt Herzchen in die Haferflocken und lässt dann den halbvollen Teller stehen. Lächelnd und in Gedanken versunken macht sie sich auf den Weg zum Schulbus. Da kann es schon einmal passieren, dass sie ihren Rucksack mit allen Schulsachen Zuhause stehen lässt.
Hyperfokussieren oder Hyperfokus: In einer Sache vollkommen aufgehen
Im Unterricht malt sie Herzen auf ihren Schreibblock und auf ihren Unterarm, anstatt den Ausführungen der Lehrer zu folgen. Hoch konzentriert verfasst sie kleine Liebesbriefe und verziert diese mit künstlerischen Zeichnungen. Anfangs sind die Eltern ganz begeistert davon, wie konzentriert ihre vergessliche und chaotische Tochter plötzlich wirkt. Doch dann bemerken sie, dass Lena kaum noch andere Dinge im Kopf hat, als diesen Jungen.
Alles dreht sich um Jakob
Die Inhalte des Unterrichts nimmt sie überhaupt nicht mehr auf. An die Hausaufgaben kann sie sich nicht erinnern, meistens erklärt sie, dass sie keine aufhätte. Verbringt sie doch einmal Zeit an ihrem Schreibtisch, dann schmiedet sie Pläne, wie sie Jakob auf sich aufmerksam machen kann. Hoch konzentriert vergleicht sie die Stundenpläne vor sich und Jakob, und plant zufällige Treffen beim Bus oder auf dem Schulhof.
Lena begeistert sich plötzlich für American Football, weil Jakob diesen Sport ausübt. Stundenlang sucht sie im Internet nach aktuellen Informationen, nur um Jakob nah sein zu können. Oft ist sie dabei überhaupt nicht ansprechbar und reagiert nicht.
Lena gelingt es jedoch nicht, ihre Konzentration auch auf andere Bereiche zu lenken. Im Gegenteil, ihre Noten werden immer schlechter, weil sie im Unterricht abschaltet. In ihrem Leben ist für nichts anderes mehr Platz als für Jakob. Sie träumt von einem gemeinsamen Leben und hält die Schule für sinnlose und vertane Zeit.
Was tun, wenn ein Kind hyperfokussiert?
Lenas Eltern sind ratlos. Schließlich können sie den jungen Mann nicht einfach verschwinden lassen. Die Romanze spielt sich auch mehr in Lenas Kopf ab, als der Realität. Wie sollten sie darauf Einfluss nehmen?
Wenn sie mit ihrer Tochter schimpfen, erreichen sie überhaupt nichts. Auch ein Hausarrest, ein langes Gespräch mit den Lehrern und ein Computerverbot bringen nichts. Selbst als sie das Smartphone von Lena eine Weile einziehen, ändert sich an dem Verhalten des jungen Mädchen nichts. Sie wird lediglich sehr wütend auf ihre Eltern und zieht sich noch mehr in ihr Zimmer und ihre eigene Welt zurück.
Dieser Zustand hält einige Wochen an, ohne dass die Eltern etwas ausrichten können. Dann verändert sich Lenas Verhalten plötzlich. Ein Freund von Jakob hat ihr erzählt, dass ihr Schwarm sich für ein anderes Mädchen interessiert. Für Lena bricht eine Welt zusammen. Tagelang verkriecht sie sich in ihrem Zimmer und weint, ist untröstlich, spricht vom Ende ihres Lebens. Ihre positive Lebenseinstellung ist von
einer Minute auf die andere gekippt. Sie kann dem Alltag nichts Positives mehr abgewinnen, zieht sich von allen Aktivitäten zurück. Auch Gesprächen verweigert sie sich, hört exzessiv Musik und schreibt Tagebuch. Erst nach langen sieben Tagen verändert sich Lenas Verhalten, die Fokussierung auf Jakob scheint überwunden. Alle atmen auf, den nun ist Lena wieder ansprechbar, wenn auch unkonzentriert wie eh und je.
Hyperfokussieren kommt bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS vor
Für einen Jugendlichen mit einer AD(H)S ist es nicht schlecht, sein Talent und sein Interesse auf eine Aufgabe zu konzentrieren, anstatt sein Bedürfnis nach Spannung und Aufregung auf Drogen oder kriminelle Handlungen zu verlagern. Bei Jessica zeigt sich das Hyperfokussieren am deutlichsten, wenn sie liest. Sie ist eine Vielleserin und taucht dann zu 100 Prozent in die Welt des Buches ein. Wenn sie ein Buch anfängt, muss sie auch es zuende lesen. Vorher gelingt es ihr nicht, sich einem anderen Thema zuzuwenden. Hausaufgaben oder Vorbereitungen auf die Schule, ein Treffen mit Freunden oder ein Ausflug mit der Familie - nichts interessiert sie, bevor das aktuelle Buch beeendet ist.
Hyperfokussiert: Was ist passiert?
Wenn Jugendliche, Kinder oder Erwachsene mit einer AD(H)S sich für ein spezielles Thema interessieren, können sie hoch konzentriert und motiviert dranbleiben. Ist ihr Interesse geweckt, können sie sich so stark mit einem Thema beschäftigen, wie kaum ein Mensch ohne die Störung. Von vielen hochbegabten Genies wird angenommen, dass sie ihre Entdeckungen und Erkenntnisse dem Hyperfokus verdanken, zum Beispiel Einstein, Leonardo da Vinci, Napoleon Bonaaparte oder Ludwig van Beethoven. Sie alle vollbrachten außergewöhnliche Leistungen und war sehr spezielle Persönlichkeiten, die mit großer Wahrscheinlichkeit von einer AD(H)S betroffen waren.
Das Hyperfokussieren ist eine besondere Art der Konzentration, aber sie birgt auch Gefahren
- Kinder und Jugendliche, die hyperfokussieren, vernachlässigen alles andere, was in ihrem Leben ebenfalls wichtig und notwendig ist.
- Ganz besonders leiden die schulischen Leistungen darunter, da notwendiges Wissen überhaupt nicht mehr aufgenommen wird. Es scheint, als ob das Gehirn vollkommen damit ausgelastet ist, sich auf ein Thema zu fokussieren.
- Natürlich zieht dieses Verhalten auf vielen Ebenen Ärger nach sich. Die Lehrer, die Freunde und auch die Familie scheinen den Jugendlichen nicht mehr zu erreichen. Sie
- sind vollkommen abgemeldet.
Ziele des Hyperfokus sind nicht immer positv
Viele Jugendliche versinken in Rollenspielwelten, leben in imagiären Gemeinschaften und verlieren den Bezug zur Realität. Der Hyperfokus auf die Online-Welt führt hier schnell in ein Suchtverhalten, aus dem der Jugendliche alleine kaum noch herauskommt. Jugendliche, die sich im Zustand des Hyperfokussierens befinden, hören häufig solche Sätze wie: “ Na also, es geht doch. Du bist einfach nur zu faul, um dich auf die Schule zu konzentrieren. Streng dich doch mehr an!“
Dass sich ein von der AD(H)S betroffener Jugendlicher nur dann konzentrieren kann, wenn vorher schon eine hohe Motivation vorhanden ist, wird dabei vollkommen übersehen. Auf diese Motivation haben die Jugendlichen allerdings keinen Einfluss und können sie auch nicht bewusst herstellen oder steuern.
Hyperfokus und Spezialwissen
Viele Jugendliche haben Spezialgebiete, die sie begeistern und bei denen sie aufmerksam und konzentriert bei der Sache sind. Sich zu verlieben gleicht so einem Spezialgebiet. Die Interessen des anderen werden übernommen und den eigenen Vorlieben untergeordnet. Für alles andere fehlen dann die Energie und die Kraft. Der Zustand des FLOW, also des völligen Aufgehens in einer Aufgabe mit dem Verlust des Zeitgefühls, ist vielen kreativen Menschen bekannt. Die Abgrenzung zur Fokussierung bei einer AD(H)S ist schwierig. Beide Zustände sind vergleichbar, die Jugendlichen mit einer AD(H)S haben jedoch kaum Einfluss auf Anfang und Ende des Zustandes. Sie müssen fast mit Zwang aus den Situationen gelöst werden.
Typische Beispiele von Hyperfokussion sind:
- die vollkommene, tagelange Vertiefung in ein packendes Videogame
- ungebremste Energie, die sich auf ein Thema richtet, beispielsweise eine
Sportart - absolute Begeisterung für das Spielen eines Instrumentes, die Tag und Nacht
umgesetzt wird - endlos puzzlen, stricken oder basteln, ohne sich für etwas anderes öffnen zu
können - dauernde, gedankliche Beschäftigung mit einem Thema, sodass keine
Unterhaltung über etwas anderes möglich ist - grenzenlose Begeisterung für technisches Wissen, die jeden anderen Bereich
ausgrenzt
Das Hyperfokussieren hat also Vor- und Nachteile. Für die Erziehungsberechtigten oder Eltern bedeutet das, stets genau aufzupassen, in welche Richtung sich diese Besessenheit entwickelt. Beim Interesse für einen Sport, bei einem Schwarm oder die Unfähigkeit ein Buch wegzulegen sind die Gefahren nicht besonders groß. Anders sieht es beispielsweise beim Interesse für ein Computerspiel aus. Möglicherweise kann sich aus dem Hyperfokus eine Sucht entwickeln. Gerade in der Pubertät sind Jugendliche dafür sowieso sehr anfällig. Wenn es ihnen nicht gelingt, sich den Sucht erzeugenden Strategien eines Computerspiels zu entziehen, können Sie davon abhängig werden.
Was können Eltern dem Hyperfokus entgegensetzen?
Hier gilt es früh einzugreifen und immer wieder Alternativen anzubieten. Dabei können viele Personen helfen, enge Freunde, Verwandte oder Bekannte. Gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen, attraktive Angebote zu machen und sich an den Interessen und Talenten des Jugendlichen zu orientieren ist hilfreich. Ebenso wichtig ist es, etwas in der Gruppe oder mit einem Partner oder einer Partnerin zu unternehmen. Je weniger der Jugendliche die Möglichkeit hat, sich ganz in seinem Hyperfokus zu versenken, desto besser
Eine Gesprächstherapie kann sinnvoll sein
Jugendliche sind durchaus in der Lage ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Das ist ein Vorteil und kann genutzt werden. Anders als bei Kindern, denen das noch extrem schwer fällt oder sogar unmöglich ist, können Jugendliche im Gespräch ihr Verhalten erkennen und in kleinen Schritten auch beeinflussen. Die richtige Ansprechperson ist dabei ein Therapeut oder eine Therapeutin, die die nötige Distanz zu den Jugendlichen haben. Eltern sind hier nicht die richtigen Ansprechpartner.
Entsprechende Adressen erhält man beispielsweise beim Kinderarzt, bei den Selbsthilfegruppen, bei den Krankenkassen, bei entsprechenden Internetseiten oder auch direkt beim Jugendamt. Zurzeit dürfte es extrem schwierig sein, dort einen Termin zu erhalten. Durch die aktuelle Pandemiesituation ist es sehr schwierig. Viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben Probleme und benötigen therapeutische Unterstützung. Sobald die Pandemie vorbei ist, bzw. wie sie im Griff haben, dürfte das wieder einfacher werden. Generell gilt jedoch, dass wir eine therapeutische Unterversorgung in Deutschland haben.
Hyperfokus kann zur Enttäuschung führen
Achtung: Wenn Jugendliche mit einer AD(H)S sich in einer Phase der Hyperfokusierung befinden, birgt das auch Gefahren. Im Falle von Lena könnte die Enttäuschung über ihren Schwarm Jakob zu einer Form von Depression führen. Es ist wichtig, dass die Eltern oder Erziehungsberechtigten gleichermaßen Abstand wahren und die Entwicklung im Auge behalten. Erkennen sie Symptome einer Depression (Abbruch aller Kontakte, totaler Rückzug, massives Weinen, Antriebslosigkeit,Suizidgedanken) muss unbedingt ein Facharzt eingeschaltet werden.