Muss Legasthenie im Zeugnis vermerkt werden?

Die Legasthenie, eine spezifische Lernstörung, die das Lesen- und Schreibenlernen beeinträchtigt, steht heute im Mittelpunkt einer aktuellen Debatte in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, ob die Erwähnung von Legasthenie in Schulzeugnissen als diskriminierend gilt. Diese Entscheidung hat weitreichende Implikationen für tausende von Schülern und Schülerinnen mit Legasthenie.

Was ist Legasthenie?

Legasthenie, auch als Lese-Rechtschreibstörung (LRS) bekannt, reduziert die Fähigkeit von Kindern und Erwachsenen zum Lesen und Schreiben. Es handelt sich dabei um eine „nicht-sichtbare“ Behinderung, die nicht auf eine geringere Intelligenz hinweist, sondern darauf, dass Betroffene Schwierigkeiten haben, gesprochene in geschriebene Sprache umzuwandeln und umgekehrt​​. Mit den passenden Methoden können Legastheniker Strategien entwickeln, die ihnen gut helfen.

Legasthenie. Muss die Belastung noch größer werden? Entscheidung steht aus.

Ursachen von Legasthenie

Die genauen Ursachen von Legasthenie sind noch nicht vollständig geklärt, jedoch spielen genetische Faktoren eine bedeutende Rolle. Legasthenie betrifft oft mehrere Mitglieder einer Familie. Weitere beeinflussende Faktoren können Sprachentwicklungsverzögerungen, psychosoziale Aspekte und eine beeinträchtigte visuelle Wahrnehmung sein​​.

Gerichtliche Auseinandersetzung

Die Kontroverse dreht sich um die Frage, ob die Erwähnung von Legasthenie in Abiturzeugnissen diskriminierend sei. Drei Kläger aus Bayern, bei denen fachärztlich Legasthenie diagnostiziert wurde, führen an, dass der Vermerk im Zeugnis, wonach ihre Rechtschreibleistungen nicht bewertet wurden, diskriminierend sei. Sie argumentieren, dass dieser Vermerk zu Nachteilen bei der Hochschulzulassung oder bei der Jobsuche führen könnte. Der bayerische Staatsminister für Unterricht und Kultus hält dagegen, dass solch ein Vermerk für Klarheit und Transparenz sorgt und Chancengleichheit gewährleistet​​.

Betroffene zittern

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird von großer Bedeutung sein, da sie die Bildungschancen und Zukunftsperspektiven von vielen Schülern und Schülerinnen mit Legasthenie beeinflussen kann. Es stellt sich die Frage, wie man am besten mit den Herausforderungen von Legasthenie im Bildungssystem umgeht, ohne die Betroffenen zu benachteiligen.

Update – das Urteil ist da!

Bundesverfassungsgericht: Legasthenie als Behinderung bestätigt 

Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (BVL) begrüßt das heutige Urteil, welches Schülerinnen und Schülern deutschlandweit helfen wird, ihre schulische Situation zu verbessern.

Bonn, 22.11.2023

„Mit dem heutigen Urteil hat das BVerG die Legasthenie als Behinderung bestätigt, was sich bundesweit nachhaltig auf die Betroffenen, insbesondere bei Prüfungen auswirken wird. Zu begrüßen ist, dass Karlsruhe heute sehr deutlich einen Anspruch auf das Absehen der Bewertung von Rechtschreibleistungen festgestellt hat, abgeleitet aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz. Grundsätzlich werden Zeugnisvermerke über die Nichtbewertung einzelner Leistungen aber als geboten erachtet“, sagt Dr. Johannes Mierau, Rechtsanwalt aus Würzburg. 

Der BVL dankt den damaligen Abiturienten, dass sie die Ausdauer und den Mut besessen haben, das Verfahren über Jahre hinweg bis zum Bundesverfassungsgericht zu führen. 

„Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie sind nicht in ihren fachlichen Kompetenzen eingeschränkt, sondern nur in den technischen Fertigkeiten des Rechtschreibens oder des Lesens, die im Zeitalter der Digitalisierung in Schule, Ausbildung, Studium und Berufsleben sehr gut ausgeglichen werden können“, erläutert Tanja Scherle, Bundesvorsitzende des BVL. „Menschen mit einer Legasthenie arbeiten aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz erfolgreich in allen Berufen. Mit der heutigen Entscheidung sind alle Länder verpflichtet, ihr jeweiliges Prüfungsrecht anzupassen“, so Scherle. 

Ca. 10 – 12 % aller Menschen sind von einer Legasthenie betroffen und kämpfen sich, trotz guter Begabung, mühevoll durch unser Schulsystem. Durch die Fokussierung auf die Schwächen erfahren die Kinder bereits mit Schulbeginn viel seelisches Leid, da sie in den Basisfertigkeiten des Lesens und/oder Rechtschreibens eingeschränkt sind, was sich auf alle Schulfächer auswirkt. Sie erhalten in allen Fächern einen Punktabzug aufgrund der mangelhaften Rechtschreibung, auch wenn inhaltlich alles richtig dargelegt wurde. Erst durch die Nichtbewertung der Rechtschreibung wird die fachliche Kompetenz transparent im Zeugnis dargelegt. 

„Die seelische Belastung, die durch diesen schulischen Druck entsteht, zeigt sich oftmals in massiven Ängsten, trauriger Stimmung und sozialem Rückzug, was durch eine bessere schulische Unterstützung abgefedert werden muss“, sagt Prof. Dr. Schulte-Körne, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am LMU-Klinikum. „Wir müssen dabei auch an die Kinder mit einer Rechenstörung denken, die genauso einer seelischen Belastungssituation ausgesetzt sind,“, so Prof. Dr. Schulte-Körne. Das Urteil führt zu einer mentalen Entlastung für Jugendliche und junge Erwachsene mit einer Legasthenie und setzt auch klare Signale, Schülerinnen und Schüler mit einer nicht sichtbaren Behinderung, wie der Dyskalkulie schulrechtlich ebenso eine Chancengleichheit zu verschaffen.

„Das Urteil öffnet hoffentlich auch weitere Türen für Menschen mit einer Dyskalkulie, für die es bis heute keine ausreichenden schulrechtlichen Regelungen gibt, obwohl die Entwicklungsstörung in den schulischen Fertigkeiten durch eine Rechenstörung mit einer Lese-/Rechtschreibstörung gleichzusetzen ist“, sagt Rechtsanwalt Mierau.

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