Ungeliebt und verlassen! Ralf wurde adoptiert, und nun?

Über das Thema Adoption oder Pflegekinder wird gerne geschwiegen, anscheinend wird kaum jemand gerne adoptiert. Das wurde mir klar, als ich letztens einen Anruf erhielt und um eine Buch-Rezension gebeten wurde. Zurzeit gibt es jährlich rund 4000 Adoptionen (2021) und ca. 80.000 Pflegekinder (2021) – definitiv ein Thema. Voller Neugier vertiefte ich mich in die vermutete „Seelenschau“ und wurde sehr positiv überrascht. Adoption oder Pflegschaften sind ein Tabu-Thema, mit dem auch ich als Pädagogin und Lerntherapeutin nur selten konfrontiert wurde. Aber sprechen wir über das Buch.

Über allem schwebt die Scham, adoptiert zu sein

Es lädt geradezu zum Durchblättern und Stöbern ein, kein schlechter Anfang, finde ich. Und dann lerne ich… Adoptiv- oder Pflegekinder gibt es auch in Deutschland nicht gerade wenig, sie leben mitten unter uns und sind oft nicht als solche erkennbar. Weder die Adoptiveltern noch die Kinder machen ihr Schicksal zum Thema, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ein großer davon ist Scham. Wurde doch das Kind von den Ursprungseltern weggegeben und konnten doch die Adoptiveltern in den meisten Fällen keine eigenen Kinder bekommen. Nicht gerade ein schöner Start ins Leben, mit dem man seine Freunde unterhalten möchte.

Adoptiv- und Pflegekinder sind Kinder, die von Eltern aufgenommen werden, die nicht ihre biologischen Eltern sind. Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen, wie zum Beispiel, wenn die biologischen Eltern nicht in der Lage sind, sich um das Kind zu kümmern oder aufgrund von Tod oder Vernachlässigung.
Ich bin adoptiert

Adoptiert oder Pflegekind? Es ist nicht leicht

Adoptiert zu werden oder ein Pflegekind zu sein führt zu einer inneren Zerrissenheit, die sich durch das ganze Leben zieht. Die meisten Betroffenen verkapseln ihre Gefühle in sich und sprechen möglichst wenig über den unerfreulichen Start ins Leben. Doch ist das gesund? Aus Talkshows mit Küchenpsychologie-Themen, aus Therapiegesprächen und dem eigenen Bauchgefühl haben wir doch gelernt, dass unterdrückte Gefühle großen Schaden anrichten können. „Sprich über das, was dich bewegt und verarbeite es dadurch!“

Ralf musste 50 werden, um offen zu sprechen

Dr. Ralf Lengen

Und genau das hat Dr. Ralf Lengen sich zu Herzen genommen und nach über 50 Jahren eines Lebens als erst Pflege- und später dann Adoptivkind in Buchform veröffentlicht. Mutig, ehrlich und sicher nicht auf jeder Buchseite nachvollziehbar. Denn wie sollen Kinder einer Ursprungsfamilie verstehen, was das bedeutet, von seinen Eltern nicht gewollt zu sein? Ralf Lengen versteht es vermutlich manchmal selber nicht ganz. Ist er mit 5 Jahren doch in einem Leben und bei einer Familie gelandet, die ihm Liebe, Bildung und Unterstützung gab. Er machte sogar seinen Doktor und kann bisher auf eine sehr erfolgreiche Berufslaufbahn und eine große, eigene Familie zurückblicken. Wäre ihm das als Kind eines iranischen Vaters bei einer alleinerziehenden Mutter in Deutschland auch gelungen? Man wagt es zu bezweifeln.

Hallo, ihr adoptierten Kinder seid nicht alleine!

Ja, aber es scheint sich oft so anzufühlen. Alleine, ausgegrenzt, anders, nicht dazu gehörend. Dieses Gefühl ist nur ein Gefühl, aber Gefühle sind eben stark. Und auch Ralf leidet noch unter seiner Lebensgeschichte. Und das geht nicht nur ihm so, sondern auch vielen anderen Betroffenen aus verschiedenen Ländern. Diese kommen in seinem Buch zu Wort, sodass das Thema nicht nur aus (s)einer Sicht beleuchtet wird.

Natürlich lässt sich ein Lebenslauf nicht verändern und eine Entscheidung nicht zurückdrehen. Aber das Nachdenken darüber und das Akzeptieren können helfen, sich mit seinem Werdegang auszusöhnen.

Ist das Kind adoptiert?

Fast schon eine Pflichtlektüre

Alles in allem ist das ungewöhnliche Buch eine interessante und spannende Lektüre über einen Lebensbereich, der viel zu oft im Verborgenen bleibt. Sicherlich werden nicht nur adoptierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene damit etwas anfangen können, sondern alle Menschen, in deren Freundeskreis Pflegekinder oder Adoptivkinder zu finden sind. Hilfreich ist ein Blick hinter diese Fassade selbstverständlich auch für Menschen, die im Bildungs- oder Erziehungsbereich tätig sind.

Das Buch hat ein handliches Format und wirkt fast wie ein coffee-table-book. Es lädt zum Durchblättern, Weiterlesen und darüber sprechen ein – so soll es sein, oder? Diese Aufarbeitung eines wichtigen Tabu-Themas verzichtet auf langatmige theoretische oder wissenschaftliche Erklärungen und stellt vielmehr die betroffenen Menschen in den Mittelpunkt. Sie kommen zu Wort, und das macht für mich den Charme des Buches aus.  Blättert man durch die Quellennachweise wird klar, dass fundierte Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung sehr wohl als Grundlage dienen, aber in einer leicht verdaulichen und luftigen Form verarbeitet sind.

„Ich finde es berührend, bereichernd und wichtig!“

Fazit: Ins neue Leben getreten! von Ralf Lengen ist ein überzeugendes Gesamtpaket aus persönlichen Offenbarungen, grundlegenden Erkenntnissen, wissenschaftlichen Grundlagen und moderner Print-Optik. Bei mir bleibt es auf dem Wohnzimmertisch liegen, um das ein oder andere Gespräch zum Thema anzuregen. Und wenn du es auch einmal lesen willst, dann kannst du es hier bestellen.

Uta Reimann-Höhn, Diplom Pädagogin, Autorin

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